SIEBENUNDZWANZIG
Obwohl Ava noch bleiben will, nehme ich sie bei der Hand und dränge sie quasi mit sanfter Gewalt zum Gehen, da wir schon genug Zeit im Sommerland vergeudet haben und ich noch andere Dinge zu erledigen habe.
»Verdammt!« Sie linst auf ihre Finger, als wir gerade in ihrem kleinen violetten Zimmer auf den Bodenkissen gelandet sind. »Ich hatte gehofft, dass sie sich halten.«
Ich registriere nickend, dass die mit dicken Edelsteinen besetzten Goldringe, die sie manifestiert hatte, wieder zu ihrem gewohnten Silberschmuck geworden sind und auch weder die schicken Schuhe noch die Designer-Handtasche die Reise überlebt haben.
»Das habe ich mich auch gefragt«, sage ich, während ich mich erhebe. »Aber du weißt, dass du das auch hier machen kannst, oder? Du kannst manifestieren, was du willst, du musst nur Geduld haben.« Ich lächele und möchte gern einen positiven Abschluss finden, indem ich die gleichen ermunternden Worte äußere wie Damen, als er mit meinem Unterricht begonnen hat - einem Unterricht, bei dem ich besser hätte aufpassen sollen, doch damals dachte ich noch, als Unsterblicher hätte man alle Zeit der Welt. Außerdem bekomme ich langsam ein schlechtes Gewissen, weil ich so hart zu ihr war. Ich meine, wer kann sich bei seinem ersten Besuch im Sommerland schon sämtlichen Versuchungen entziehen?
»Und was jetzt?«, fragt sie, während sie mir zur Haustür folgt. »Wann reisen wir wieder hin? Ich meine, du gehst doch nächstes Mal nicht ohne mich, oder?«
Als ich mich umdrehe und sie ansehe, erkenne ich, wie erfüllt sie von ihrem Besuch ist, und ich frage mich, ob es ein Fehler war, sie mitzunehmen. Ich weiche ihrem Blick aus und gehe zu meinem Auto. »Ich rufe dich an«, sage ich noch schnell in ihre Richtung.
Am nächsten Morgen mische ich mich wie an jedem anderen Tag unter den gewohnten Schülerstrom, nur dass ich mich diesmal nicht darum bemühe, Abstand zu bewahren und mir meinen persönlichen Raum freizuhalten. Stattdessen lasse ich mich einfach treiben. Ich reagiere nicht die Bohne, wenn mich Leute streifen, obwohl ich iPod, Kapuzensweatshirt und Sonnenbrille zu Hause gelassen habe.
Das kommt daher, dass ich mich nicht mehr auf diese alten Accessoires verlasse, die ohnehin nicht so besonders funktioniert haben. Jetzt habe ich, wo ich gehe und stehe, meine Quantenfernbedienung dabei.
Gestern, als Ava und ich Sommerland schon verlassen wollten, habe ich sie gebeten, mir zu helfen, einen besseren Schild zu bauen. Eigentlich hätte ich sie draußen warten lassen und einfach wieder in die Halle gehen können, um eine Antwort zu bekommen, aber weil sie mir helfen wollte, dachte ich, sie könnte dabei ja auch etwas lernen, und blieb mit ihr am Fuß der Treppe stehen, wo wir beide unsere Energien darauf konzentrierten, uns einen Schild zu wünschen, der es uns gestattet (na ja, vor allem mir, denn Ava hört ja weder Gedanken, noch erfährt sie allein durch Berührung ganze Lebensgeschichten), uns nach Belieben ein- und auszuloggen. Im nächsten Moment sahen wir einander an und sagten genau im selben Sekundenbruchteil: »Eine Quantenfernbedienung!«
Wann immer ich jetzt also die Gedanken von jemandem hören will, surfe ich einfach in sein Energiefeld und gehe auf »Auswahl«. Und wenn ich meine Ruhe haben will, drücke ich auf »stumm«. Genau wie bei meiner Fernbedienung zu Hause. Nur ist die hier unsichtbar, sodass ich sie praktisch überall mit hinnehmen kann.
Ich gehe extra früh in den Englischklassenraum, damit ich auch alles von Anfang bis Ende mitbekomme. Ich will keine einzige Sekunde meiner geplanten Überwachungsaktion verpassen. Denn obwohl ich einen optischen Beweis dafür bekommen habe, dass Roman für Damens unerklärliche Verwandlung verantwortlich ist, bringt mich das nicht wesentlich weiter. Nun, da die Frage nach dem Wer geklärt ist, muss ich mich mit dem Wie und dem Warum beschäftigen.
Ich hoffe nur, es dauert nicht zu lange. Ich meine, zum einen vermisse ich Damen. Und zum anderen habe ich nur noch so wenig Unsterblichkeitssaft, dass ich ihn schon rationieren muss. Da Damen nie dazu gekommen ist, mir das Rezept dafür zu geben, habe ich keine Ahnung, wie ich für Nachschub sorgen soll, geschweige denn, was passiert, wenn er mir ganz ausgeht. Bestimmt nichts Gutes.
Zuerst dachte Damen, er brauchte das Elixier nur einmal zu trinken und wäre damit ein für alle Mal von sämtlichen Gebrechen geheilt. Und obwohl das die ersten hundertfünfzig Jahre galt, hat er begonnen, erneut davon zu trinken, als er die ersten leisen Anzeichen des Alterns an sich bemerkt hat. Und dann wieder. Bis er schließlich total abhängig davon wurde.
Ihm war auch nicht klar, dass ein Unsterblicher getötet werden kann, bis ich seine Exfrau Drina zur Strecke gebracht hatte. Und während wir uns alle beide sicher waren, dass die einzige Methode darin besteht, das schwächste Chakra anzugreifen (in Drinas Fall das Herzchakra), und ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass wir die Einzigen sind, die das wissen, hat Roman - demzufolge, was ich gestern in der Akasha-Chronik gesehen habe - noch einen zweiten Weg entdeckt. Was bedeutet, dass ich, wenn ich Damen retten will, herausfinden muss, was Roman weiß, bevor es zu spät ist.
Als schließlich die Tür aufgeht, hebe ich den Kopf und sehe eine Horde Schüler hereinstürmen. Und obwohl ich es nicht zum ersten Mal erlebe, ist es immer noch schwer, mit anzusehen, wie sie alle miteinander lachen und scherzen und sich bestens verstehen, nachdem sie sich letzte Woche noch mehr oder weniger ignoriert haben. Und obwohl es genau die Art von Szene ist, von der jeder in seiner Highschool träumt, begeistert es mich angesichts der Umstände nicht unbedingt.
Dies liegt nicht allein daran, dass ich als Ausgestoßene bloß zuschauen kann, sondern daran, dass es gruselig, unnatürlich und bizarr ist. Ich meine, in Schulen läuft es einfach nicht so. Menschen funktionieren nicht so. Gleich und gleich werden sich immer zueinander gesellen, so ist es einfach. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Außerdem haben sie sich ja nicht aus eigenem Antrieb dazu entschlossen. Sie begreifen nämlich gar nicht, dass ihre ganzen Umarmungen, ihr Gelächter und ihre albernen Begrüßungen mit rituellem Handschlag nicht auf ihrer neu entdeckten Zuneigung zueinander beruhen, sondern dass allein Roman dafür verantwortlich ist.
Wie ein meisterhafter Marionettenspieler manipuliert er seine Objekte ganz nach Belieben - Roman führt Regie. Und obwohl ich nicht weiß, wie oder warum er das tut, und ich nicht beweisen kann, dass er es tatsächlich tut, weiß ich einfach tief in meinem Inneren, dass es stimmt. Es ist so klar wie das Stechen in meinem Magen oder die Kälte, die meine Haut überzieht, wenn er in der Nähe ist.
Ich sehe zu, wie Damen sich hinsetzt und Stacia sich an seine Bank lehnt. Ihr dick aufgepolsterter Busen schwebt direkt vor seinem Gesicht. Sie wirft die Haare nach hinten und lacht über ihren eigenen dummen Witz. Und obwohl ich nicht hören kann, was für einen Scherz sie gemacht hat, da ich sie gezielt ausgeschaltet habe, um Damen besser hören zu können, genügt mir schon die Tatsache, dass er ihn blöd findet.
Das gibt mir ein kleines bisschen Hoffnung.
Ein Stückchen Hoffnung, das in dem Moment abstirbt, als er seine Aufmerksamkeit ihrem Dekolletee zuwendet.
Ich meine, er ist so stumpfsinnig, so pubertär, und, offen gestanden, total peinlich. Und als ich gestern glaubte, meine Gefühle wären verletzt, als ich gezwungen war, ihn mit Drina knutschen zu sehen, muss ich rückblickend sagen, dass das gar nichts war im Vergleich zu dem hier.
Denn Drina ist Vergangenheit, heute ist sie nichts als ein schönes, hohles, oberflächliches Bild auf einer Scheibe.
Doch Stacia ist Gegenwart.
Und obwohl sie ebenfalls schön, hohl und oberflächlich ist, steht sie leider in all ihrer dreidimensionalen Herrlichkeit vor mir.
Ich lausche, wie Damens verwässertes Gehirn von den Formen und Vorzügen von Stacias dick aufgepolstertem Busen schwärmt, und kann mich nur fragen, ob das seinem wahren Geschmack bei Frauen entspricht. Ob diese verzogenen, habgierigen, eitlen Mädchen die Art von Frauen sind, die er in Wirklichkeit mag. Und ob ich nur eine merkwürdige Anomalie bin, eine seltsame Anwandlung, die ihm in den letzten vierhundert Jahren immer wieder in die Quere gekommen ist.
Ich behalte ihn die ganze Stunde hindurch im Auge und beobachte ihn von meinem einsamen Platz ganz hinten. Mechanisch und ohne nachzudenken, beantworte ich Mr. Robins' Fragen, indem ich einfach die Antwort wiedergebe, die ich in seinem Kopf sehe. Meine Gedanken bleiben immer bei Damen, und ich sage mir wieder und wieder, wer er wirklich ist: dass er trotz allem Anschein gutherzig, freundlich, mitfühlend und loyal ist - die unbedingte Liebe meiner zahlreichen Leben. Und dass die Version, die jetzt vor mir sitzt, nicht echt ist, denn ganz egal, wie sehr sich auch einige der gestern offenbarten Verhaltensweisen in ihm widerspiegeln mögen, das ist nicht der echte Damen.
Als es endlich klingelt, folge ich ihm. Ich beobachte ihn die ganze Sportstunde lang und lungere vor seinem Klassenzimmer herum, während ich eigentlich Leichtathletik treiben sollte. Ich verstecke mich, sowie ich die Aufpasser im Flur nahen fühle, und kehre zurück, sobald sie verschwunden sind. Ich beäuge ihn durchs Fenster und belausche alle seine Gedanken, genau wie die Stalkerin, als die er mich bezeichnet hat. Ich habe keine Ahnung, ob es mich belasten oder erleichtern soll, als ich feststelle, dass seine Aufmerksamkeiten sich nicht allein auf Stacia beschränken, sondern mehr oder weniger jedem Mädchen gelten, das auch nur halbwegs gut aussieht und in seiner Nähe sitzt - es sei denn natürlich, die Betreffende bin ich.
Und während ich auch noch die dritte Stunde Damen nachspioniere, konzentriere ich mich in der vierten auf Roman. Ich sehe ihm direkt in die Augen, als ich auf meine Bank zugehe, und jedes Mal, wenn ich spüre, dass er mich anpeilt, drehe ich mich um und zeige ihm, dass ich es gemerkt habe. Und obwohl seine Gedanken über mich ebenso banal und peinlich sind wie Damens Gedanken über Stacia, verkneife ich es mir, rot zu werden oder zu reagieren. Ich nicke nur und lächele freundlich, entschlossen, es mit einem Grinsen zu ertragen, denn wenn ich herausfinden will, wer dieser Typ wirklich ist, dann hat es keinen Zweck, ihm aus dem Weg zu gehen wie einem Aussätzigen.
Als es klingelt, beschließe ich, mich aus dieser Ausgestoßenenrolle als Freak zu befreien, in die man mich gegen meinen Willen gedrängt hat, und gehe schnurstracks auf die lange Tischreihe zu. Ich ignoriere das Raunen in meinem Magen, das mit jedem Schritt schlimmer wird, entschlossen, mir einen Platz zu erobern und bei den anderen aus meiner Klasse zu sitzen.
Als ich beim Näherkommen Roman nicken sehe, bin ich wider Willen enttäuscht, dass er nicht annähernd so erstaunt ist, wie ich dachte.
»Ever!« Er lächelt und tätschelt die schmale Lücke direkt neben ihm. »Hab ich es mir doch nicht nur eingebildet. Ist im Unterricht also doch etwas zwischen uns passiert.«
Ich lächele steif und quetsche mich neben ihn, wobei mein Blick automatisch zu Damen wandert, doch nur für einen Moment, ehe ich mich zwinge wegzusehen. Ich schärfe mir ein, dass ich mich auf Roman konzentrieren muss und mich auf keinen Fall ablenken lassen darf.
»Ich wusste, dass du irgendwann zur Einsicht kommst. Wenn es nur nicht so lange gedauert hätte. Wir haben so viel nachzuholen.« Er beugt sich vor, wobei mir sein Gesicht so nahe kommt, dass ich die einzelnen Farbflecken in seinen Augen ausmachen kann, glitzernde violette Punkte, in denen man sich so leicht verlieren könnte ...
»Das ist schön. Ist das nicht schön? Alle sitzen so zusammen - alle sind in Harmonie vereint. Und die ganze Zeit hast nur du gefehlt. Aber jetzt, wo du da bist, ist meine Mission erledigt. Und da dachtest du, es ginge nicht.« Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht - die Augen geschlossen und die Zähne gebleckt, während sich der Glanz der Sonne in seinen goldblonden Haaren fängt. Und obwohl ich es nur ungern zugebe, ist er einfach hinreißend.
Natürlich nicht so wie Damen, nicht einmal annähernd. Roman ist auf eine Art und Weise gut aussehend, die mich an mein altes Leben erinnert - er besitzt genau das richtige Maß an oberflächlichem Charme und gut dosierter Anziehungskraft, auf die ich früher abgefahren wäre. Damals, als ich alles einfach so hingenommen habe und nur selten, wenn überhaupt, hinter die Fassade geblickt habe.
Ich sehe zu, wie er von seinem Schokoriegel abbeißt, ehe ich den Blick wieder auf Damen richte. Beim Anblick seines hinreißenden Profils füllt sich mein Herz mit derartiger Sehnsucht, dass ich es kaum aushalte. Ich sehe ihn mit den Händen herumfuchteln, während er Stada irgendeine alberne Geschichte erzählt, obwohl ich mich wesentlich weniger für die Anekdote interessiere als für die Hände an sich, wenn ich daran denke, wie wundervoll sie sich einst auf meiner Haut angefühlt haben.
»Aber so schön es auch ist, dass du wieder bei uns bist, frage ich mich trotzdem, was eigentlich los ist«, sagt Roman, der mich nach wie vor mustert.
Doch ich starre nach wie vor Damen an. Beobachte, wie er Stada die Lippen auf die Wange drückt, ehe er sich um ihr Ohr herum und ihren Hals hinabarbeitet.
»Denn auch wenn es mir natürlich schmeicheln würde, dass dich mein unschlagbar gutes Aussehen und mein Charme überwältigt haben, weiß ich es doch besser. Also sag mal, Ever, was geht ab?«
Ich höre Roman reden, seine Stimme leiert im Hintergrund vor sich hin wie ein endloses fernes Raunen, das man leicht ignorieren kann, aber mein Blick bleibt bei Damen hängen - der Liebe meines Lebens, meinem ewigen Seelenfreund, der nicht einmal wahrnimmt, dass es mich überhaupt gibt. Mein Magen rebelliert, als er mit den Lippen über Stacias Schlüsselbein streift, ehe er zu ihrem Ohr zurückkehrt und ihr leise etwas zuflüstert. Er versucht, sie zu überreden, den restlichen Unterricht sausen zu lassen, damit sie zu ihm nach Hause fahren können ...
Moment mal - sie zu überredend Heißt das, dass sie nicht von vornherein dazu bereit ist? Bin ich die Einzige hier, die davon ausgegangen ist, dass sie längst miteinander geschlafen haben?
Doch gerade als ich mich auf Stacia einstellen will, um zu erfahren, was sie damit bezweckt, dass sie so tut, als wäre sie schwer zu haben, tippt mir Roman auf den Arm und sagt: »Ach, komm schon, Ever. Nicht so schüchtern. Verrat mir, was du hier willst. Sag mir, was genau dich dazu veranlasst hat.«
Noch ehe ich antworten kann, schaut mich Stacia an und sagt: »Hey, Freak, genug geglotzt?«
Ich sage nichts, sondern tue einfach so, als hätte ich nichts gehört, während ich mich auf Damen konzentriere. Ich weigere mich, Stacia wahrzunehmen, obwohl die beiden derart ineinander verschlungen sind, dass sie praktisch verschmelzen. Wenn er sich doch nur umdrehen und mich sehen - mich wirklich sehen - würde, so wie früher.
Aber als er endlich aufsieht, geht sein Blick mitten durch mich hindurch, als wäre ich mittlerweile unsichtbar.
Wie er so durch mich hindurchschaut, werde ich stumpf und atemlos, ich erstarre und kann mich nicht mehr bewegen.
»Ähm, hal-lo?«, ruft Stacia, so laut, dass es alle hören. »Ich meine, mal im Ernst. Können wir dir helfen? Kann dir irgendwer helfen?«
Ich sehe Miles und Haven an, die nur ein paar Meter weit weg sitzen und die Köpfe schütteln, während sie alle beide wünschen, sie hätten nie etwas mit mir zu tun gehabt. Dann schlucke ich schwer und rufe mir in Erinnerung, dass sie nicht die Kontrolle haben, sondern dass Roman Autor, Produzent, Regisseur und Schöpfer dieser gottserbärmlichen Show ist.
Ich fange Romans Blick auf, während mein Magen sich grollend verkrampft, als ich die Gedanken in seinem Kopf betrachte. Diesmal muss ich mich durch die oberflächliche Schicht des üblichen geistlosen Krams durchgraben, denn ich will wissen, ob dahinter noch mehr steckt als der lüsterne, nervige, zuckersüchtige Teenager, als der er sich selbst präsentiert. Das kaufe ich ihm nämlich nicht ab. Das Bild, das ich auf der Kristallscheibe gesehen habe, wo sich ein fieses, triumphierendes Grinsen über sein ganzes Gesicht zog, weist auf eine wesentlich dunklere Seite hin. Und während sein Lächeln breiter wird und sein Blick sich auf mich konzentriert, wird alles dunkel.
Alles außer Roman und mir.
Ich purzele durch einen Tunnel und werde immer schneller, gezogen von einer Kraft außerhalb meiner Kontrolle. Ich rutsche unkontrollierbar in den dunklen Abgrund seiner Gedanken, während Roman sorgfältig einzelne Szenen auswählt, die ich sehen soll - Damen, wie er in unserer Suite im Montage eine Party schmeißt, eine Party mit Stacia, Honor, Craig und all den anderen Leuten, die früher nicht einmal mit uns gesprochen haben, eine Party, die sich tagelang hinzieht, bis er schließlich rausgeworfen wird, weil er die Suite verwüstet hat. Er zwingt mich, alle möglichen abstoßenden Handlungen zu verfolgen, Dinge, die ich lieber nicht gesehen hätte, bis das Ganze im letzten Bild kulminiert, das ich an jenem Tag auf dem Kristall gesehen habe - der allerletzten Szene.
Ich falle rückwärts vom Sitz und lande mit verknoteten Gliedmaßen auf dem Boden, nach wie vor in Romans Bann, und komme erst zu mir, als die gesamte Schule immer wieder schrill und spöttisch »Freak!« brüllt. Voller Entsetzen muss ich zusehen, wie mein rotes Elixier aus der umgefallenen Flasche über die Tischplatte läuft und an den Seiten heruntertropft.
»Alles in Ordnung?«, fragt Roman und mustert mich, während ich mühsam aufstehe. »Ich weiß, wie hart das Zusehen ist. Glaub mir, Ever, ich kenne das. Aber es ist alles nur zum Besten, ganz ehrlich. Das wirst du mir wohl oder übel glauben müssen.«
»Ich habe gewusst, dass du es bist«, flüstere ich, während ich zitternd vor Wut vor ihm stehe. »Ich hab's von Anfang an gewusst.«
»Du hast es gewusst.« Er lächelt. »Du hast es gewusst. Ein Punkt für dich. Aber ich muss dich warnen - ich habe immer noch gut zehn Punkte Vorsprung.«
»Damit kommst du nicht durch«, sage ich und sehe voller Grauen zu, wie er den Mittelfinger in die Pfütze meines ausgelaufenen roten Safts tunkt und sich die Tropfen in so bedächtiger Weise auf die Zunge fallen lässt, dass es den Anschein hat, als wollte er mir damit etwas sagen, mir einen Hinweis geben.
Doch gerade als sich in meinem Kopf eine Idee zu entfalten beginnt, leckt er sich die Lippen und sagt: »Aber weißt du, genau da irrst du dich.« Er dreht den Kopf so, dass das Zeichen an seinem Hals zu sehen ist, das fein gearbeitete Ouroboros-Tattoo, das nun vor meinem Blick erscheint und wieder verschwindet. »Ich bin bereits damit durchgekommen, Ever.« Er lächelt. »Ich habe schon gewonnen.«